Netzökonom Dr. Holger Schmidt: „Retail Media hat sich im Online-Handel durchgesetzt“


Der Experte für Plattformökonomie beobachtet Retail Media bereits seit 2014 und spricht mit uns über Status quo, Risiken und Potenziale der Werbedisziplin.    


Netzökonom Dr. Holger Schmidt

Apple bringt das iPhone 6 auf den Markt, Netflix startet in der DACH-Region und Deutschland wird Fußball-Weltmeister. In der digitalen Werbung gehören Behavioural und Retargeting zu den beliebtesten Innovationen. All das war im Jahr 2014. Von einem möglichen Ende des Third-Party Cookies ahnte damals niemand etwas, Retail Media gab es schon, es steckte aber gewiss noch in den Kinderschuhen. Und dennoch war es jenes Jahr, in dem Dr. Holger Schmidt erstmals mit Retail Media in Berührung kam.

Seit über 20 Jahren beschäftigt sich Holger Schmidt mit digitaler Ökonomie, insbesondere mit Plattformen, digitalen Geschäftsmodellen und künstlicher Intelligenz. Als Netzökonom hält der ehemalige „FAZ“-Redakteur heute Vorträge, lehrt an der TU Darmstadt und ist Berater des The Original Platform Fund. Über seine ersten Erfahrungen mit Retail Media im Jahr 2014 sagt er: „Damals hatte das Thema in Europa und den USA eigentlich noch kaum jemand auf dem Schirm. Ich selbst hatte davon im Zusammenhang mit Alimama, der Retail Media-Tochter von Alibaba, gehört und war schon damals beeindruckt von den hohen Umsätzen, die sie damit erzielten. Umso mehr war ich verwundert, dass westliche Player wie auch Amazon erst später damit starteten.“

Entsprechend wenig überrascht ist Schmidt von der hohen Relevanz, die Retail Media heute, im Jahr 2022, mit sich bringt. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie waren da nur der letzte Wake-up Call, wie Criteo bereits in der letzten Ausgabe unseres Commerce Media Magazins festgestellt hat. Was jedoch noch immer nicht ganz einheitlich ist, ist das Verständnis davon, was der Begriff Retail Media eigentlich alles umfasst. Holger Schmidt versteht darunter „prinzipiell Werbung, die unmittelbar am Point of Sale ausgespielt wird oder, um im Digitalen zu bleiben, auf Onlineshops und Plattformen“.

Was ist nochmal Retail Media: 

Der Begriff Retail Media steht für eine Werbeform, bei der Marken die Möglichkeit bekommen, Ads auf Händlerwebseiten zu schalten. Dort können sie dann spezifische Kundengruppen entsprechend deren Interessen, Kauf- oder Suchverhalten gezielt ansprechen. Hierfür kann Retail Media unterschiedliche Produkt- und Lösungsansätze anhand des gesamten Sales Funnels von Awareness-Generierung bis hin zu Conversions anbieten.

Die Dominanz der Plattformen

Plattformen sind in diesem Kontext das Stichwort. Alibaba hat Schmidt bereits als einen der ersten großen Player angesprochen, die das Potenzial von Retail Media erkannten. Vor einiger Zeit sind auch Amazon, Otto, Zalando und Co. auf den Zug aufgesprungen. Doch was genau macht Retail Media für Plattformen so attraktiv und wichtig? „Plattformen haben sich im Online-Handel als das dominante Geschäftsmodell durchgesetzt und infolgedessen auch im Retail Media. Und diese Entwicklung wird sich künftig nur noch verstärken, wenn sich immer mehr Märkte in Richtung Plattformen und damit auch in Richtung Retail Media bewegen.“ 

Für die Retailer ist es auf der anderen Seite fast schon unerlässlich, auf Plattformen präsent zu sein, um nicht den Anschluss zu verlieren. Davon ist Holger Schmidt überzeugt. Für ihn stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob Händler auf Plattformen präsent sein sollten, sondern nur, mit welcher Strategie. „Die Vorteile von Plattformen nicht zu nutzen in einer Welt, in der Plattformen das überlegene digitale Geschäftsmodell sind, halte ich für einen gefährlichen Weg. Viele Händler sehen nur die Gefahr, sich damit zu abhängig zu machen“, so der frühere „FAZ“-Journalist. „Aber es gibt Mittel und Wege, das zu verhindern, zum Beispiel durch einen Multihoming-Ansatz, bei dem die Retailer auf mehreren Plattformen gleichzeitig präsent sind.“

Retail Media auch für mittelgroße Händler und Neueinsteiger sinnvoll

Bei der Frage, für welche Art von Händlern Retail Media tatsächlich etwas bringt, scheiden sich noch ein bisschen die Geister. Denn während Jana Meißner von L’Oréal der Meinung ist, dass kleinere und weniger bekannte Händler erst Awareness generieren müssen, bevor sie von Retail Media profitieren können, ist Holger Schmidt vom Gegenteil überzeugt: „Mithilfe von Retail Media können Händler sich sozusagen in das Auge ihrer potenziellen Kunden hineinbewegen, ohne über eine starke Marke zu verfügen. Deshalb nutzen ja auch viele weniger bekannte Händler dieses Instrument, weil sie damit an der Markenbekanntheit der Big Player vorbeimarschieren können und die Aufmerksamkeit ihrer Zielgruppen erlangen.“

Eine wichtige Rolle, unabhängig von Größe und Bekanntheit der Händler, spielen dabei Netzwerke, über die Marken und Retailer mit den für sie richtigen Publishern und Plattformen zusammenkommen können. „Das macht gerade für kleine und mittlere Unternehmen den Charme aus, dass sie mithilfe eines Netzwerks größere Reichweiten erzielen und mehr Kunden akquirieren können, als sie es aus eigener Kraft schaffen würden“, sagt Holger Schmidt.

Retail Media und die Zukunft adressierbarer Werbung 

Ein weiterer E-Commerce-Trend neben Retail Media, der in jüngerer Vergangenheit zu beobachten war, ist der, dass immer mehr Marken ihre Produkte über eigene Webshops verkaufen. Mit dem Potenzial dieses D2C-Modells hat Criteo sich ebenfalls bereits in der letzten Ausgabe unseres Commerce Media Magazins beschäftigt. Diese Praktik ist für Retailer deswegen attraktiv, weil sie dadurch Lieferketten verkürzen, indem sie den Weg über die Plattformen überspringen und stattdessen unmittelbar selbst an ihre Kunden verkaufen. Gleichzeitig müssen sie sich aber auch selbst um die gesamte Logistik kümmern und einen eigenen hochwertigen Onlineshop umbauen.

Dass in naher Zukunft nahezu alle Marken auf D2C-Vertrieb setzen und Retail Media somit obsolet werden würde, hält Holger Schmidt aber für unwahrscheinlich – vor allem im Hinblick auf kleinere Player: „Aus meiner Sicht gibt es im D2C eine natürliche Grenze. Und die erreiche ich dann, wenn ich eben keine bekannte Marke habe. Dann muss ich so viel in das Marketing investieren, um D2C erfolgreich gestalten zu können.“

Einen positiven Effekt auf Retail Media sieht der Plattform-Experte hingegen im Aufstieg der First-Party Daten: „First-Party Daten werden wichtiger, das ist vollkommen klar. Und da Plattformbetreiber über sehr gute First-Party Daten  verfügen, können sie natürlich ihre Vorteile ausspielen. Die werbepolitischen Regulierungen spielen ihnen da eindeutig in die Karten.“ Gleichzeitig appelliert Schmidt: „Jetzt geht es darum, die eigenen Daten noch besser aufzubereiten. Analytics werden da natürlich noch wichtiger, als sie es ohnehin schon sind.“

Wo die Retail Media-Reise hingeht

Tatsächlich sieht Holger Schmidt aber genau darin aktuell das größte Wachstumshemmnis von Retail Media: nämlich in der zu langsamen Entwicklung neuer Tools, die die Nutzung von Retail Media noch intuitiver und nutzbarer machen könnten. „Auch Google und Facebook waren nicht über Nacht auf dem Level, auf dem sie heute sind. Es hat Jahre gedauert, bis die Tools wirklich so ausgereift waren, dass das Targeting so gut funktioniert“, so der Netzökonom und weiter sagt er: „Sicherlich ist an diesem Punkt im Moment der Nachholbedarf groß, Retail Media auf dasselbe Level an technischer Performance zu heben, wie es Display- oder Suchmaschinen-Werbung heute schon haben.“

Einen Einbruch der Nachfrage sieht Schmidt zumindest kurzfristig nicht als Bedrohung an, wenngleich er zu bedenken gibt, dass auch das Wachstum von Retail Media begrenzt sei. Nämlich in dem Sinne, dass selbst das gigantische Retail Media-Inventar irgendwann ausgeschöpft und alle attraktiven Werbeplätze vergeben seien.

Nichtsdestotrotz sieht Schmidt jede Menge Raum für Innovationen. Zum Beispiel, dass Retail Media der wenig nachhaltigen Fast-Fashion-Bewegung entgegenwirken könnte, wenn besagte Analytics und damit die Vorhersagbarkeit von Interessensströmungen seitens der Konsumenten verbessert werden. In Liveshopping und Omnichannel-Strategien nennt er zwei weitere Bewegungen, die aus den USA und China nach Europa kommen und das Retail Media-Geschäft verändern könnten: „In China ist Liveshopping ein Riesenthema. Das muss nicht nach Europa kommen, aber wenn es das tut, würde es Retail Media noch mal deutlich verändern, da wir dann ganz neue Video-Kapazitäten aufbauen müssten. In Amerika beobachte ich gerade mit großem Interesse Walmart, die massiv in das Thema Retail Media reingehen, ihren Online- und Offline-Auftritt verknüpfen und für die Konsumenten so eine einheitliche Retail Media-Welt schaffen.“

Schmidts Ausführungen veranschaulichen, wie sehr sich die digitale Werbung in den acht Jahren, seit er das Thema Retail Media verfolgt, entwickelt hat. Es fällt daher leicht und schwer zugleich, sich vorzustellen, wie viel Neues die nächsten acht Jahre auf dem Themengebiet Retail Media für uns bereithalten.

Blogpost 

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