Läutet Covid-19 das Sterben der deutschen Innenstädte ein?

Online vs. offline oder online und offline? Der Handel, die Politik und auch die Konsumenten diskutieren über die Zukunft der Innenstädte. Erholt sich der stationäre Handel wieder von den Lockdown-bedingten Besucher- und Umsatzeinbrüchen? Dazu haben wir drei Experten gefragt: Björn P. Böer, Chefredakteur von “Der Handel”, Andreas Schwabe, Partner und Director der Boston Consulting Group, und den Stadt- und Wirtschaftsentwickler Andreas Klopp. In einem sind sich die Experten einig: Die Zukunft liegt in einem kreativen und smarten Miteinander. Zwischen online und offline und dem schlauen Einsatz der richtigen Marketing-Tools. 



Interview mit Andreas Schwabe, Partner und Direktor der Boston Consulting Group

Ist die Innenstadt noch zu retten?

Ich glaube schon. Auch wenn der stationäre Handel in den Städten in der Tat in Mitleidenschaft gezogen wurde. Doch die Leute haben Lust darauf, rauszugehen und sich mit anderen Menschen zu treffen. Gleichzeitig – und so ehrlich sollten alle Beteiligten sein – wird die Zahl der reinen Ladenbesucher grundsätzlich etwas abnehmen.

Die Motivation der Menschen, in eine Stadt zu fahren, ändert sich nach der Pandemie dahingehend, dass sie den Besuch bewusster genießen wollen. Das Erlebnis und die Geselligkeit rücken also noch stärker in den Fokus. Eines darf man aber nicht vergessen ... 

Und das ist?

Dass es auch im Retail einen natürlichen Online-Deckel zu geben scheint. Die digitalen Verkäufe werden nicht höher als 40 bis 45 Prozent über alle Kategorien steigen. Es gibt Produkte, die davon abweichen. Kosmetik zum Beispiel schafft auch 60 Prozent online. Aber die Menschen wollen weiter in den Läden einkaufen. 

Das heißt, die Innenstadt wird Ihrer Ansicht nach eher ein Ort des Treffens, der Events, des Sehens und Gesehenwerdens sowie des gemeinsamen Erlebens. Es ist also dann nicht mehr der Ort, an den man gezielt fährt, um beispielsweise ein paar Skischuhe oder neues Kochgeschirr zu kaufen?   

So sehe ich das. Die Menschen gehen bestimmt nach wie vor in die Innenstadt, um sich inspirieren zu lassen. Ausschließlich wegen gezielter Käufe fährt aber kaum noch jemand in die Einkaufspassagen. Bereits im Vorfeld recherchieren und vergleichen die Shopper ausführlich an PC, Laptop, Tablet oder Mobiltelefon. Der finale Abschluss erfolgt dann allerdings in der Stadt. Denn die Leute möchten ihre Trophäe am Ende in der Tüte nach Hause tragen. Bei Luxusmarken gehört das zum Beispiel auch zum Kauferlebnis dazu, das gerade erworbene Teil stolz anderen Passanten indirekt mit dem Markennamen auf der Tüte zu präsentieren.     

Interessant. Das bricht ja ein wenig mit dem Vorurteil, dass sich Kunden im stationären Handel inspirieren lassen, nur um das Produkt dann online zum günstigsten Preis zu kaufen. Sie sehen das Geschäft noch immer als letzten entscheidenden Faktor, der die Kunden zum Kaufabschluss bringt?

Genau. Die Ausnahme sind jedoch sehr funktionale Dinge des alltäglichen Lebens, wie Batterien, Küchenrollen etc. Doch wenn es um emotionale Käufe geht, bevorzugen die Kunden das Geschäft in der Stadt. Deswegen bin ich auch der Meinung, dass der Trend dahin geht, das Erlebnis rund um das Einkaufen weiter zu orchestrieren und zu etwas Besonderem zu machen. Das bedeutet, dass im Laden nicht nur Waren präsentiert werden, sondern dass Retailer dies zum Beispiel in ein gastronomisches Angebot einbetten oder damit kombinieren. Das Stichwort dabei ist „Omni-Kanal-Erlebnis“ – online wie offline. Die aktuelle Registrierung der Kunden bei „Click & Meet“ spielt den Händlern dabei Daten zu, die sie später für Cross-Selling verwenden können. 

Das ist spannend. Kann es dann nicht sein, dass sich das „Click & Meet“-Konzept durchsetzt und auch nach Corona fortgeführt wird?

Absolut. Ich glaube und hoffe trotzdem, dass man nicht nur noch ausschließlich mit Termin in den Laden kommt. Will man sich jedoch von einem Fachberater bei der Auswahl der Ware helfen lassen, der dafür auch einen gewissen Zeitkorridor schafft, ist dieses Konzept sehr gut dazu geeignet. Gleichzeitig wird dabei auch die Idee des persönlichen Erlebnis-Einkaufs durch die Registrierung weiter verbessert. 

Gibt es weitere Retail-Trends, die Sie in der Zukunft sehen – online sowie offline?

Es gilt, das Omni-Kanal-Erlebnis möglichst „barrierefrei“ zu gestalten, wie wir es gerade schon besprochen haben. Daraus ergibt sich meiner Meinung nach auch ein Trend, dass ein einzelner Laden, egal ob Franchise oder Filiale, nicht mehr nur an seiner Verkaufs-Performance vor Ort gemessen wird. Denn es kann ja sein, dass der Händler on top noch etwas online verkauft, was er gerade nicht im Laden vorrätig hat. Und deshalb muss er am gesamten Verkaufserfolg in seiner Region kanalunabhängig beteiligt werden.   

Interview mit Prof. Dr. Björn P. Böer, Chefredakteur „Der Handel“ 

Derzeit scheint es, als ob der stationäre Handel in den Städten nicht nur unter der Krise, sondern grundsätzlich unter einem veränderten Kaufverhalten leiden würde. Es drängt sich der Eindruck auf, dass er kaum noch zu retten sei.

Nein. Der stationäre Handel wird in den Innenstädten weiter existieren. Die Menschen gehen nach der Lockerung der Restriktionen wieder in die Städte zum Einkaufen. Denn es geht dabei auch darum, zu einer großen Gemeinschaft zu gehören. Es geht um das Sehen und Gesehenwerden, das Flanieren, das Kommunizieren und ganz einfach das Genießen. Die Leute wollen ein Einkaufserlebnis haben, danach in Cafés sitzen und vielleicht im Anschluss noch ein Konzert besuchen. Das können sie nicht, wenn sie nur online shoppen. 

Muss sich der stationäre Handel denn auch wandeln, damit er weiterhin eine Chance gegen die Web-Konkurrenz hat?

Zunächst einmal bietet der Online-Handel nicht das Gesamterlebnis, das der Einkauf in der Innenstadt ermöglicht. So fehlt beim Onlineshopping das haptische Erlebnis, dazu auch der human touch durch die persönliche Begegnung im Laden und anschließend beim Besuch eines Cafés oder Restaurants. Dieses Gesamterlebnis ist die konzeptionelle Grundlage. Um den Event-Charakter des Einkaufsbummels zu erhalten, haben viele Händler in den Städten bereits erkannt, dass sie ihre Läden zeitgemäß gestalten müssen. Das bedeutet: keinen Einheitslook, sondern von cool bis gediegen genau den Look, der die jeweilige Haupt-Zielgruppe passgenau anspricht. Das Anlocken funktioniert auch über Live-Events, die übrigens durchaus crossmedial inszeniert werden können, beispielsweise in Form einer Marketingkampagne mit Influencern oder Prominenten. So wirkt das Event online und eben auch im Laden.

Ist es eine gute Idee, dass der E-Commerce eine Sonderabgabe an den stationären Handel leistet?

Auf keinen Fall! Das Preis-Leistungs-Verhältnis durch eine gesonderte, auf den Vertriebsweg abzielende Steuer zu verzerren, lässt das Geld nicht mehr zum besten Wirt wandern und mindert so unseren möglichen Wohlstand. So frei wie möglich, so wenig staatliche Lenkung wie nötig: Wenn das gewährleistet ist, können Änderungen im Nachfrageverhalten – sei es bezüglich von Produkten oder eben hinsichtlich von Vertriebskanälen – optimal aufgefangen werden. Der Strukturwandel sollte weder durch Subventionen für die einen noch Steuern für die anderen aufgehalten werden. Das Beruhigende in diesem Fall: Der stationäre Handel hat weiterhin sehr gute Chancen, dauerhaft zu überleben – und zwar ohne künstliche Behinderung der Konkurrenz aus dem Internet!

Welche großen kommenden Trends sehen Sie im Handel? 

Zunächst einmal hat, wie bereits geschildert, gerade in großen Städten der stationäre Handel auch nach Corona und trotz der Internet-Konkurrenz weiter solide Zukunftsperspektiven: eingebettet in das besondere Einkaufserlebnis, geprägt durch das Flair des City Life mit Besuch von Gastronomie und Events wie Shows, Theater, Konzerten. In kleineren Städten und Gemeinden hat es hingegen schmerzhafte strukturelle Veränderungen bereits gegeben: Nicht das Einkaufen als Erlebnis, sondern zum Decken konkreter Bedürfnisse steht beim Angebot im Vordergrund. Also der Lebensmittelhändler und Baufachmarkt in jedem Fall, der Textilhändler und das Elektrofachgeschäft eher bedingt. Die Komponente des Genießens und des Sehens und Gesehenwerdens fällt in kleineren Städten tendenziell geringer aus. In den Großstädten wird die Verbindung zwischen dem stationären Handel und Veranstaltungen sowie Online-Events weiter zunehmen. Ganz vorn im Trend: Shopping-Live-Events, die über Social-Media-Plattformen gestreamt werden, verknüpft mit stationären Kampagnen, forcieren die Abverkäufe in bislang ungeahntem Maße. Diese Art des Erlebniseinkaufs hat in Fernost bereits extrem hohe Zuwachsraten und wird auch bei uns noch boomen. 

Interview mit Andreas Klopp, Leiter Wirtschaftsförderung von Ginsheim-Gustavsburg

Der durch die Coronakrise noch erfolgreicher gewordene Online-Handel sorgt dafür, dass die Innenstädte immer mehr veröden. Wie stellt sich dieses Narrativ aus Sicht der Wirtschaftsförderung dar?

Das Einkaufsverhalten der Menschen hat sich dahingehend geändert, dass sie einerseits einen Erlebniseinkauf suchen und bevorzugen, andererseits Produkte immer häufiger über das Internet bestellen. Das war schon vor Corona so und könnte sich danach weiterentwickeln. Als Mitglied im Vorstand des Gewerbevereins ermutige ich Einzelhändler, auch online aktiv zu werden und ihre Waren zusätzlich zum stationären Handel dort anzubieten. Wir nutzen jedoch auch verschiedene Instrumente wie eine Gewerbeschau, die der Gewerbeverein alle drei Jahre veranstaltet und die eine Plattform für unsere lokalen Händler bietet, um ihre Produkte und Dienstleistungen vorzustellen. Außerdem werben wir verstärkt für das Einkaufen im Ort. Die Stadtverwaltung agiert auch in Bezug auf die ärztliche Versorgung gezielt und bietet Ärzten Praxen an zentralen Punkten an, sodass unsere Bürger für einen Arztbesuch nicht in die Großstadt fahren müssen, sofern sie nicht einen bestimmten Facharzt aufsuchen müssen. 

Sie sind mit Einzelhändlern in engem Kontakt. Was sind Probleme, die Sie in den vergangenen Jahren und in den vergangenen Monaten mitbekommen haben? 

Ein großes Problem, das oft an mich herangetragen wird, ist, qualifiziertes Personal, Nachwuchs oder eine Person für die Nachfolge im Geschäft zu finden. Ich hoffe, dass es den Inhabern jedoch gelingt, denn sonst wird es zukünftig schwierig. Sie müssten ihren Laden im schlimmsten Fall schließen. Es ist jedoch auch unser Interesse als Stadt, den aktuellen Bestand an Geschäften langfristig zu sichern.    

Wie wird sich die Innenstadt weiter verändern? Wird es innerstädtisch weniger Büros und noch weniger Geschäfte geben?

In den letzten Jahrzehnten hat sich bereits viel geändert. So gibt es bei uns in der Stadt beispielsweise keine Textilgeschäfte mehr. Viele der ehemaligen Läden wurden dann in Wohnungen, aber auch Büros umgewandelt. Ich gehe aber davon aus, dass die aktuelle Versorgungsstruktur längerfristig erhalten bleibt.     

Was müssen die Städte planerisch tun, um die Innenstädte wieder attraktiver zu machen? Welche Angebote/Geschäfte sollten ganz ins Internet wandern, damit in den Städten mehr Platz für anderes ist?

Die Attraktivität der Städte kann allgemein über weitere Maßnahmen der Infrastrukturausstattung in den Stadtteilzentren gesteuert werden. Von dem Angebot, das es bei uns aktuell gibt, sollte möglichst nichts vollständig in das Internet wandern beziehungsweise die stationären Händler sollten die Möglichkeit wahrnehmen und selbst parallel die Vorteile einer Online-Vermarktung nutzen.

Redaktioneller Hinweis: Die Interviews haben wir im Frühjahr 2021 geführt. 

Wie seht ihr die Zukunft des Einzelhandels?

Übernimmt der E-Commerce die gesamte Branche oder sind die Innenstädte, Fußgängerzonen und Shopping-Zentren noch zu retten? Und wenn ja, mit welchen Konzepten. Was meint ihr? Diskutiert mit uns und sagt uns eure Meinung.